Nummer acht von 100 war wieder ein Buch, das häufig als Schullektüre gelesen wird, allerdings nicht bei mir. Der Vorleser hat mich anfangs gelangweilt, im Verlauf allerdings mit einer beeindruckenden Konstruktion überrascht.
Eine sehr ungleiche Beziehung
Der Roman spielt irgendwann Ende der 50er Jahre. Unser Erzähler ist der zu Beginn 15-jährige Michael, der die 36-jährige Hanna Schmitz trifft, die ihm aus einer misslichen Lage hilft. Als er sie erneut besucht, um sich zu bedanken, schlafen beide miteinander. In den folgenden Wochen und Monaten treffen sie sich regelmäßig. Michael verliebt sich in Hanna.
In der folgenden Nacht habe ich mich in sie verliebt. Ich schlief nicht tief, sehnte mich nach ihr, träumte von ihr, meinte, sie zu spüren, bis ich merkte, daß ich das Kissen oder die Decke hielt. Vom Küssen tat mir der Mund weh. Immer wieder regte sich mein Geschlecht, aber ich wollte mich nicht selbst befriedigen. Ich wollte mich nie mehr selbst befriedigen. Ich wollte mit ihr sein.
Bernhard Schlink – Der Vorleser
Es wird zum Ritual zwischen beiden, dass er ihr aus Büchern vorliest. Auch wenn Hannas Verhalten zuweils unerklärlich ist und es zu Konflikten kommt, ist Michael glücklich. Doch eines Tages ist Hanna plötzlich verschwunden.
In zweiten Teil des Romans, einige Jahre später, trifft er sie wieder. Michael ist inzwischen Jurastudent und der Ort, an dem er Hanna wieder sieht, ist die Anklagebank eines Gerichts. Er erfährt schockierende Ereignisse aus Hannas düsterer Vergangenheit. (Die ich hier nicht spoilern werde)
Michael erfährt nicht nur, was sie getan hat, da er sie kennt, kann er auch den beinahe absurden Grund entdecken, der ihr Handlen erklärt. Für ihn stellt sich nun die Frage, wie er mit der Vergangenheit der Frau, die er geliebt hat, und seinem Wissen über sie umgeht.
Zeit seines Lebens kann er Hanna nicht vergessen. Im dritten Teil, als Hannas Entlassung – sie ist nun eine alte Frau – näher rückt, begegnen sie sich ein letztes Mal.
Mein Fazit
Im ersten Teil habe ich mich noch gefragt, was das Besondere an diesem Buch sein soll. Sollte es allein die pädophile Beziehung der beiden sein? Teil eins hat mich beinahe gelangweilt.
Doch danach hat mich das Buch entschädigt, der Plottwist mit Hannas Vergangenheit kam unerwartet. (Auch hier will ich nicht spoilern, was mich etwas einschränkt.) Es war verblüffend, was Hanna getan hat und tut, um eine bestimmte Sache zu verbergen. Es war interessant, Michaels moralisches Dilemma zu beobachten, wie er Hannas Schuld mit seinem möglicherweise entlastendem Wissen vereinbart. Es war interessant, wie er mit den Taten der Frau umgeht, zu der er eine Beziehung hatte, welches neue Licht ihre Vergangenheit auf ihre gemeinsame Zeit wirft. Es war faszinierend, wie ihn das Vorlesen verfolgt.
Kurz: Ich kann dieses Buch empfehlen, denn das moralische Dilemma, das in Der Vorleser konstruiert wird, ist absolut beeindruckend.
Vorlesen, duschen, lieben und noch ein bisschen beieinanderliegen – das wurde das Ritual unserer Treffen.
Bernhard Schlink – Der Vorleser
Der Autor: Bernhard Schlink
Bernhard Schlink (*1944) ist ein deutscher Autor und Jurist. Zusätzlich zu seiner Schriftstellertätigkeit war er bis 2009 Professor für Recht in Frankfurt und Berlin. Mit dem Schreiben begann er Ende der 80er, als er, damals noch mit einem Co-Autor, den Krimi Selbs Justiz veröffentlichte.
Er schrieb weitere Krimis, bis er mit Der Vorleser einen weltweiten Bestseller landete. Seitdem hat er in regelmäßigen Abständen weitere Bücher veröffentlicht. Häufige Themen seiner Werke sind Fragen nach Recht und Gerechtigkeit sowie Gesellschaftskritik.
Verschiedene Titel des Autors (Auswahl):
- Olga
- Die Frau auf der Treppe
- Die Heimkehr
Daten und Links zum Buch
- Titel: Der Vorleser
- Autor: Bernhard Schlink
- Jahr: 1995
- Verlag: Diogenes
- Seiten: 207
- Gewicht: 180 g
- ISBN: 9783458350156
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