Daniel Kehlmann – Du hättest gehen sollen
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Vorab: Du hättest gehen sollen ist kein vollwertiger Roman. Leider, muss man sagen. Denn was Daniel Kehlmann hier macht, ist ziemlich gut. Die 96 Seiten kurze Erzählung ist zugegeben nicht sehr innovativ: Die Handlung setzt auf klassische Horror-Elemente, die wir alle kennen. Innovativ muss die Geschichte aber gar nicht sein, denn was spricht dagegen, etwas klassisches einfach einmal mehr wirklich gut umzusetzen? Mir hat Du hättest gehen sollen zumindest etwas mehr als eine Stunde sehr gut vertrieben.

Ein Rant als Vorwort: Was der Rowohlt Verlag hier macht, ist meiner Meinung nach eine Frechheit. Rowohlt verlangt stattliche 15 Euro für ein Buch von läppischen 96 Seiten. Ist die Verarbeitung besonders? Nein. Hat es Illustrationen? Nein. Musste ein Übersetzer bezahlt werden? Nein. Rowohlt setzt dem Ganzen die Krone auf, indem das eBook ebenfalls 15 Euro kostet.

15 Euro für diese Buch sind Abzocke. Niemand sollte diese Preispolitik unterstützen. Buchpreisbindung, damit Kultur jedem zugänglich ist, am Arsch. Ich kann jedem nur dazu raten, das Buch gebraucht zu kaufen.

Der Inhalt: Horrorshow in Österreich

Wir sind irgendwo in Österreich. Es ist Dezember. Unser Erzähler ist mit seiner Frau und seiner Tochter in einem Ferienhaus. Er hat sich mit seiner Familie dort zurückgezogen, um ein Drehbuch zu schreiben. Es ist die Fortsetzung zu einem Film, der zwar erfolgreich war, den er allerdings nicht mag.

Die Erzählung selbst besteht aus einer Art Tagebuch unseres namenlosen Erzählers. So erhalten wir alles Geschehen aus seiner Perspektive. Wir erleben zunächst, wie er an seinem Drehbuch arbeitet. Allerdings schweift er oft ab und wir erfahren zum Beispiel wie es um seine Ehe steht. Freundlich gesagt: Es könnte besser aussehen.

Also, warum bin ich so beunruhigt? Warum zittern meine Hände so stark, dass die Schrift krakelig wird, warum dieses Herzklopfen, und warum ist mir immer noch so kalt?

Daniel Kehlmann – Du hättest gehen sollen

Nach und nach wird klar, dass irgendetwas mit diesem einsamen Haus in den Bergen nicht stimmt. Warum hat er Alpträume? Warum verläuft er sich? Und warum meint der Krämer im Dorf, er solle mit einem Geodreieck die Winkel im Haus messen? Etwa weil sie nie 180° ergeben?

Mir war, als müsste ich mich übergeben, aber ich kämpfte dagegen an, das durfte nicht passieren. Nicht vor dem Kind.

Daniel Kehlmann – Du hättest gehen sollen

Irgendetwas stimmt hier nicht. Das wird unserem Erzähler immer klarer. Jetzt geht es nur noch darum, seine Tochter zu retten. Schafft er es, diesem Haus zu entkommen, oder verschlingt es ihn?

Meine Meinung: Wie Shining, nur kürzer und besser?

Eine Geschichte bei der mein größter Kritikpunkt ist, dass sie zu kurz ist, macht vieles richtig. Denn in der Tat hätte ich von Du hättest gehen sollen gerne auch das dreifache gelesen. Ein Stephen King hat in Shining auf über 600 Seiten zu keinem Zeitpunkt auch nur halb so sehr fesseln können wie es hier der Fall war.

Auch in anderer Hinsicht musste ich an Shining denken, denn das Setting ist ziemlich ähnlich. Es sind klassische Horror-Elemente, die wir hier finden:

  • Ein abgelegenes Haus in den Bergen
  • Vater, Mutter, kleines Kind
  • Die Familie will ein paar ruhige Tage verbringen, der Vater ist mit einer Art Selbstfindung beschäftigt
  • Es kriselt ein wenig in der Ehe
  • Seltsame Bewohner der Gegend
  • Eine mysteriöse Vergangenheit rund um das Haus und auch jetzt geschehen seltsame Dinge
  • Irgendwann bricht die Verbindung nach außen ab

Sounds familiar? Das Setting ist keinesfalls besonders innovativ, aber am Ende zählt natürlich, was der Autor daraus macht. Sprachlich ist die Erzählung wie eigentlich immer bei Kehlmann erstklassig und auch der Plot funktioniert ausgezeichnet – ganz ohne dass man in Germanistenmanier alles groß in seine Einzelteile zerlegen müsste.

Letzteres kann man natürlich trotzdem, wenn man denn Lust dazu hat. Von daher: Womit haben wir es also zu tun?

Und dann schreien wir beide wieder, sodass ich nicht ihr und sie nicht mir zuhören kann, und dann sitze ich am Tisch und höre die Haustür zuknallen und den Motor anspringen, und dann lausche ich in die schwach rauschende Stille und habe alles aufgeschrieben und verstehe es doch nicht, sie hat recht. Ich verstehe es nicht.

Daniel Kehlmann – Du hättest gehen sollen

Ich sehe in der Geschichte sehr viele Motive rund um das Themenfeld „Entfremdung“, „Verlust“ und „Realitätsverlust“.

Unser Erzähler, ein Autor, ist mit seinen Werken nicht besonders erfolgreich. Daher schreibt er aus finanziellen Gründen die Fortsetzung einer zweitklassigen Komödie, für die er sich eigentlich schämt – eine Art Selbstverlust. Und auch das Schreiben an sich ist ja bereits die Konstruktion einer alternativen Realität, fernab von der Wirklichkeit.

[Spoiler]

Später verliert er immer mehr: Seine Frau, die ihm einen Seitensprung verschwiegen – und damit quasi eine andere Realität vorgetäuscht – hat, später den Handyempfang, die Orientierung, seinen Verstand und schließlich seine Tochter. Wie die Gesetze der Physik in der Berghütte gerät auch seine komplette Welt aus den Fugen.

Gut gemacht finde ich in diesem Zusammenhang im Übrigen auch das Verhalten unseres Erzählers seiner Tochter gegenüber. Zunächst ist sie ihm beinahe lästig, schließlich hält sie ihn von seiner Arbeit ab. Später, als sich die seltsamen Vorkommnisse häufen, ist er einerseits aus Vaterliebe um sie besorgt, andererseits ist sie ihm beinahe fast noch lästiger, denn schließlich muss er ihr vortäuschen, alles wäre in Ordnung, in der Hoffnung, die Kleine nicht zu beunruhigen. Auch hier finden wir also das Motiv der Täuschung.

Die kleine Tochter ist außerdem das perfekte Vehikel, um die Spannung und Intensität des Plots noch zu steigern. Wir können mitfühlen, wie sehr die Sorge um sie die Stresssituation noch steigert.

[Spoiler Ende]

Der Autor: Daniel Kehlmann

Daniel Kehlmann (*1975) ist ein deutsch-österreichischer Schriftsteller. 1997 veröffentlichte er im Alter von 22 seinen ersten Roman Beerholms Vorlesung. Sein Buch Die Vermessung der Welt gehört zu den erfolgreichsten Büchern der jüngeren deutschen Literaturgeschichte.

Er wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Häufige Themen seiner Werke sind das Verhältnis von Sein und Schein, oder das Verwischen der Grenze von Realität und Fiktion.

Verschiedene Titel des Autors (Auswahl):

Daten und Links zum Buch

  • Titel: Du hättest gehen sollen
  • Autor: Daniel Kehlmann
  • Jahr: 2016
  • Verlag: Rowohlt
  • Seiten: 96
  • Gewicht: 169 g
  • ISBN: 9783498035738

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Kommentare

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  1. Selbst wenn ich das Buch nicht gelesen hätte, würde ich aus der Besprechung mitnehmen: Es ist nicht nur kurz und gut, sondern wahrscheinlich auch besser, weil es kurz ist. Wo King eine Geschichte, die Potential für im besten Fall 200 Seiten hat regelmäßig auf 600-1000 redundante Seiten auswalzt, erzählt Kehlmann dicht auf knapp 100.
    Warum sollte man für 100 gute Seiten nicht bereit sein, so viel zu zahlen wie für 1000 Qual? Kunst soll doch nicht Zeit totschlagen und Literatur ist, auch wenn wir für die dicken Bücher das Wort gebrauchen, kein Schinken. Und wenn man die Schinkenmetapher weiterführen möchte können 100g Qualität durchaus mehr wert sein als 1kg total durchwachsener Fettpampe.
    Und von der Produktionsseite ist ein kurzes Buch natürlich ähnlich teuer wie ein langes. Andersrum wäre der Literatur mehr geholfen. Wenn Verlage sich trauten, nicht nur ihren Stars mal ein kurzes Buch zu erlauben, sondern sich auch um die Erzählungen von Neulingen kümmern würden. Zwischen knapp 100 und 200 Seiten findet sich meist die stärkste Literatur.

    • Hier müssen wir trennen: Ja, definitiv tut es dem Text aus qualitativer Sicht gut, dass er kurz ist. Und weil er gut ist, hätte ich gern mehr gelesen, weshalb es eben ein wenig schade ist, dass er nicht länger ist. Das heißt aber keinesfalls, dass man die Geschichte künstlich strecken sollte. Es ist einfach schade.

      Was den Preis angeht, hinkt dein Vergleich. Für den Verlag spielt es in der Produktion und bei der Preispolitik erst mal keine Rolle, ob ein Text „gut“ oder „schlecht“ ist – am Ende ist es bedrucktes Papier. Dieses Buch hier hat weder eine besondere Verarbeitung, noch irgendwelches Bonusmaterial. Man hätte es ja zumindest hochwertig gestalten können. 15 Euro muss es ganz bestimmt nicht kosten, ganz besonders nicht als E-Book. 3 Euro weniger wären da schon möglich gewesen. Der Verlag nutzt hier den prominenten Autor für einen Aufpreis und das darf man kritisieren.

      • als eBook vll nicht, aber 15€ für ein Buch sind wirklich nicht viel. Dass es nach X Jahren noch immer so viel kostet, mag man kritisieren, aber ich schätze es hat sich einfach nicht gut verkauft & der Verlag denkt da kaum noch drüber nach. Entsprechend auch keine Taschenbuchausgabe. Dafür geibt es das Ganze dann auch gebraucht für 3 €. Neue Bücher, egal wie dich, kosten oft 20, teils 30 Euro. Und auch ich muss mit mindestens 10 für ein Taschenbuch (!) kalkulieren, wenn ich es nicht fast verschenken will.
        „Weil er gut ist, wär es toll, wenn er länger wäre“ ist mE einfach ein Denkfehler aus der Welt der Gastronomie, nicht der Kunst. Wäre er länger, wäre er nicht mehr so gut. Ein Werk ist fertig, wenn es in sich geschlossen Überzeugt. Und du zeigst dich selbst überzeugt von dem Werk. Kein Grund, die Mona Lisa jetzt auf eine Waldlichtung zu malen, damit die Leinwand größer wird.
        Genau diese Haltung, die Verlage ja kennen, verhindert die Publikation von fast aller Literatur zwischen Kurzgeschichtenformat und 200+ Seiten, im Genrebereich sogar eher 500+.

        • Ob es ein Lied ist, ein ganzes Konzert, ein Theaterstück, ein Film, ein Fußballspiel, ein Spaziergang, … – es ist nur natürlich und dazu auch völlig legitim, am Ende zu sagen: „Das war klasse. Schade, dass es schon vorbei ist.“

          Davon abgesehen finde ich den Begriff „Kunst“ generell immer schwierig. Zum einen landen wir da zu nahe an irgendwelchen typischen Feuilleton-Diskussionen, zum anderen ist und bleibt das Schreiben primär ein Handwerk.

  2. Mir ist egal ob du es Kunnst nennst, obwohl der Unterschied zwischen Schreiben, Musik, Malerei usw nur im Medium liegt, der Rest ist Komposition. All das ist Kunst, und braucht gutes Handwerk, um gute Kunst zu erzeugen. Schlechtes Handwerk erzeugt dann eher schlechte Kunst. „Kunst“ ist ja außerhalb der Hände von Snobs kein wertender Begriff. Er ist aber sehr viel präziser, um zu verstehen, von welchem Feld wir reden, da es halbwegs zielführend ist, Schreiben und Malerei zu vergleichen, während das mit Schreiben und Klempnern nur in seltenen Fällen erhellender sein wird.
    „Schade, dass es vorbei ist“ und sich zu wünschen, dass etwas, dessen Güte gerade auch in der Kürze liegt, sei länger, sind ja zwei vollkommen unterschiedliche Denkvorgänge. Der eine würdigt das Werk, der andere wünscht sich ein anderes, macht also beinahe das Gegenteil.
    Und der Verlag hat doch auch nirgends getäuscht (dann könnte ich die Kritik eher nachvollziehen). Ehe man das Buch kauft sieht man ja, ob man einen Schinken bekommt oder eine kürzere Erzählung. Wenn man online bestellt, stehen da immer die Seitenzahlen. Es gibt Bücher wie „West“, die durch große Schrift und Leere Seiten auf fast das doppelte gestreckt werden. Da könnte man sich getäuscht fühlen. Aber das Buch ist herausragend, also werd ich auch da nicht meckern. Und wenn es Mist wäre erst recht nicht, denn dann wär ich froh, dass es vorbei ist.

    • Ich habe leider das Gefühl, dass wir zum Teil immer noch aneinander vorbei reden, Begrifflichkeite anders verstehen bzw abgrenzen und nicht dasselbe meinen.

      Wenn man sagt „Schade, dass es vorbei ist“, wünscht man sich ein anderes Werk und würdigt nicht, was man hat? Ich stimme nicht zu.

      Dass der Verlag getäuscht hätte und man sich getäuscht fühlen würde, davon hat doch bislang noch niemand gesprochen? Es ging immer nur darum, dass hier der prominente Name als Cash Cow benutzt wird, um den Rest des Programms querzufinanzieren. – Was ich für kritikwürdig halte, du scheinbar nicht.

  3. Ich schrieb doch oben schon, dass ich gegen „Schade, dass es vorbei ist“ nichts gesagt hätte. „mein größter Kritikpunkt ist, dass sie zu kurz ist“, klingt aber ganz anders. Und „15 Euro für dieses Buch sind Abzocke“ kann ich nicht unterschreiben. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass es schwer ist, da drunter zu bleiben, besonders wenn man in Dtl drucken will & lange Bücher kosten im Druck halt einfach nicht so viel mehr. Mein Verlag nahm für A6-Softcover da schon nur auf meine Bitte hin 10,90 bzw 12,90, beim ersten Buch im größeren Format sogar 15,90 – und das war immer knapp kalkuliert, weil ich keine LeserInnen ausschließen möchte. Einer der besseren Buchpreis-Romane, „Vater und ich“ von Dilek Güngör (100S) kostet Softcover (glaube ich, weil Verbrecher-Verlag) neu 19 Euro. Und wenn man gute Literatur will, nicht lange, muss man akzeptieren, sogar unterstützen, dass kurze Bücher ähnlich viel kosten wie lange. Sonst hilft man mit bei der eh schon bestehenden Tendenz, dass Verlage implizit oder explizit Mindestlängen setzen, denn dann verfestigt sich weiter die Überzeugung: Kurzes verkauft sich nicht.
    Auf deiner 100-Bücher liste zB finde ich mindestens 6, für die das der Tod gewesen wäre.

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