Zählt ein gehörtes Buch als gelesen?
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Hörbücher und unsere Aufmerksamkeit

Photo by Konstantin Dyadyun on Unsplash

Ich kenne diesen einen Podcasthost, der gerne davon spricht, zwei bis drei Bücher jede Woche zu lesen und zwar so effektiv wie möglich. Im nächsten Satz erklärt er wie er das schafft, nämlich indem er sie als Hörbuch mit 1,5-facher Geschwindigkeit nebenbei zu anderen Beschäftigungen hört.
Jedes Mal wieder denke ich mir: „Du kannst doch nicht ernsthaft behaupten, diese Bücher gelesen zu haben“.

Zählen Bücher, die man „nur“ gehört hat, als gelesen?
Was macht das gelesen haben überhaupt aus? Zunächst mal ist Lesen natürlich anstrengender als Hören. Es braucht wesentlich mehr Konzentration und geistige Energie. Dafür behält man aber auch mehr, als wenn man etwas nur nebenbei als Sound laufen hat.
Oder ist das gar nicht so?

Psychologen haben herausgefunden, dass rein akustische Medien (wie eben Hörbücher) zu höherer emotionaler Involvierung führen als Serien. Den Grund dahinter vermuten sie darin, dass das Gehirn versucht, die beim Hörbuch nicht vorhandenen Reize, wie eben visuelle Repräsentation, durch Imagination selbst zu ersetzen. Vielleicht kann man das auch auf das Lesen übertragen, denn so wie ein Hörbuch mehr aktive Beteiligung erfordert, als eine berieselnde Serie, so ist für das Lesen noch einmal mehr Beteiligung notwendig, als bei einem Hörbuch.
Doch was ist z.B. mit einem Sachbuch, bei dem das Emotionale nicht wirklich eine Rolle spielt?

Bleibt der Faktor der passiven Berieselung. Wir alle kennen das Problem der Aufmerksamkeitsspanne. Einem Vortrag, so gut er auch sein mag, können wir nur eine bestimmte Zeit folgen, bis unser Gehirn eine Pause braucht und abschweift, bevor es wieder neue Informationen aufnehmen kann. Jeder Student kann ein Lied davon singen.
Wenn es beim Lesen passiert, dass meine mentale Energie erschöpft ist, dann geht es im Buch nicht voran. Ich klappe es zu, weil ich merke, dass ich dem roten Faden nicht mehr folgen kann.
Klar, auch ein Hörbuch kann ich pausieren, aber hier ist die Gefahr ungleich höher, dass ich es weiter im Hintergrund laufen lasse, während ich geistig an einem völlig anderen Ort bin. Ich nehme nichts mehr aktiv auf, das Hörbuch wird zum bloßen Hintergrundgeräusch.

Ganz davon abgesehen, dass ich beim Buch nach jedem Satz darüber nachdenken kann und allgemein ganz andere Dinge entdecke, als mit dem konstanten Lesefluss eines Sprechers.
Es bleibt das Gefühl, dass ich beim Lesen mehr mitnehmen kann und dass der Unterschied umso größer ist, je komplexer das Buch ist.

Letzten Endes ist es also kein Wunder, wenn ich Schwierigkeiten damit habe, besagtem Podcasthost, der seine Bücher mit 1,5x-Speed nebenbei hört, wirklich zuzustimmen, wenn er meint er habe sie gelesen.

Kommentare

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  1. Die Aufmerksamkeitsspanne ist natürlich ein großes Problem, aber man kann Bücher ja auch mehrfach hören.
    Die These, man fasse beim Lesen per se mehr auf, halte ich für einseitig. Man fasst anderes auf, manches besondere gerade moderner und sehr alter Texte entgeht aber auch leichter. Ich kopiere mal aus meinem „Plädoyer für das Hörbuch“ (ich lasse den Link weg, der Kommentar scheint nicht rauszugehen):

    „Die Vorstellung, dass Literatur in erster Linie im stillen Kämmerlein genossen wird ist eine mit den Individualisierungsprozessen der aufklärerischen Moderne aufgekommene. Voraufklärerische Literatur war auf das Hören hin ausgelegt und entsprechend komponiert. Doch auch Goethe las seine Texte noch gerne vor, und eigentlich endete die Zeit der still gelesenen Literatur, zumindest im Bereich der nicht auf reine Unterhaltung/Berieselung ausgelegten, noch ehe sie richtig begonnen hatte. Spätestens seit den ersten Erzählungen James Joyce‘ hat auch ambitionierte Prosa (wieder) eine bedeutungstragende klangliche Seite, die, wer nur so über die Zeilen fliegt, all zu leicht überliest, und die zudem vorgelesen zum Leben erweckt einfach Spaß macht. Aber auch Dialekte und Soziolekte bei Dickens, Twain, Mann oder Storm von einem Vortragenden aufbereitet zu bekommen, der sich nicht an den Formulierungen einen abbricht, ist ein großer Gewinn.

    Ja, der ideale Leser fasst all das auch lesend auf. Aber stelle ich meine ersten Lektüren von Eliots Wasteland gegen das erste Hören, war Letzteres eine Offenbarung. Auch für spätere Lektüren. Probieren Sie es, gern auch mit den melodischen Meisterwerken Dylan Thomas‘.“

  2. Also gut, hier schreibe ich einen Kommentar, was ich dazu denke. Ich denke, Du hast recht, wenn Du sagst das Hören nicht wirklich Lesen ist. Da könnte man sonst ja auch sagen, Gucken ist Lesen. Also einen Film anschauen, Buch gleich „mitgelesen“. Nein, so geht es nicht. Man muss schon Lesen um zu Lesen. Das Buch liegt auf der Hand. MfG
    Thorsten J. Pattberg, Autor der Lehre vom Unterschied

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